Linguist im Fokus (#4)

Gerrit Kentner

Gerrit Kentner ist Mitarbeiter in der Abteilung für Sprache und Literatur am MPI für empirische Ästhetik. Er studierte Linguistik in Potsdam und Newcastle upon Tyne und war von 2006 bis 2009 Mitarbeiter in Potsdam im DFG-Schwerpunktprogramm sprachlautliche Kompetenz, in einem Projekt zur Rolle der Prosodie in der Satzverarbeitung. Anschließend war er bis 2018 Mitarbeiter am Institut für Linguistik in Frankfurt am Main bei Caroline Féry, wo er 2011 promivierte und 2018 habilitierte.

 

 

 

Wie bist du zur Linguistik gekommen?

Es gab qua Geburt in eine sprachaffine Familie eine gewisse Prädisposition. Meine Eltern haben regelmäßig mit altphilologischen Redensarten kokettiert, in der ostfriesischen Verwandtschaft wurde Platt gesprochen und meine älteren Schwestern hörten Platten von BAP, deren kölsche Texte man im Booklet mitlesen konnte, um etwas zu verstehen – letzteres war eine Art Einführung in phonologische Prozesse (mit musikalisch fragwürdiger Begleitung).

Zur Linguistik bin ich aber über einen Umweg gekommen. Nach einem unterdurchschnittlichen Abi hatte ich wenig Lust auf ein Studium. Stattdessen habe ich eine Logopädieausbildung in Münster absolviert. Dort hat Edeltraud Bülow eine Linguistikeinführung gelehrt, sie hat mich für das Fach begeistert. Direkt nach der Ausbildung habe ich dann Patholinguistik in Potsdam studiert. Aufgrund der logopädischen Vorbildung wurden mir ein paar Scheine anerkannt, sodass ich deutlich mehr Zeit hatte, mich in der theoretischen Linguistik umzuschauen, und so habe ich mich bald von Sprachpathologie und -therapie verabschiedet.

 

Welche drei Werke (Buch, Aufsatz etc.) haben dich in der Laufbahn/Denkweise etc. am meisten beeinflusst?

Für eine Spende an LinguistList habe ich „Dynamics of Language“ bekommen. Ruth Kempson und Kollegen konzeptualisieren darin sprachliches Wissen nicht als ein Regelwerk, das unabhängig von der Sprachverwendung beim Hören oder Sprechen repräsentiert ist. Stattdessen aktualisiert sich grammatisches Wissen gerade in der echtzeitlichen Sprachverwendung. Syntax wird hier in einem streng formalisierten Rahmen als Prozess der Strukturzuweisung verstanden, nicht als Beschreibung einer schon gegebenen Struktur. Zum Prozess der Strukturzuweisung gehört auch das Überprüfen und ggf. Verwerfen bereits spezifizierter Strukturen, sodass dieses Grammatikmodell recht nah an psycholinguistische Vorstellungen über die Sprachverarbeitung herankommt. Unter anderem dieses Buch hat mich inspiriert, in meiner Arbeit eine Naheführung von Grammatik- und Sprachverarbeitungsmodellen zumindest zu versuchen.

Spannend war für mich das Handbuch Cognitive Neuropsychology, herausgegeben von Brenda Rapp. Darin wird einem die Idee der Modularität des Geistes plastisch anhand von neurogenen Störungen (vor allem aber nicht nur der Sprache) nahegebracht und gezeigt, wie das Studium von umschriebenen Sprachstörungen, wie sie z.B. nach Schlaganfällen o.ä. vorkommen, Vorstellungen über die Sprachverarbeitungsarchitektur informieren kann. So spannend das Feld der kognitiven Neuropsychologie ist, über ein Nischendasein kam es wohl nie hinaus und mit dem Erfolg elaborierter komputationeller Modellbildung ist es zu einer wenig beachteten Subdisziplin der Kognitionspsychologie geworden.

René Kagers Einführungsbuch hat mir (unterstützt durch Kurse an Caroline Férys Phonologie-Lehrstuhl in Potsdam) die Optimalitätstheorie (OT) nahegebracht. Die Idee, dass Sprache ein System ist, in dem unterschiedliche grammatische (und pragmatische) Erfordernisse im Konflikt stehen, ist so einfach wie einleuchtend. Ebenfalls einleuchtend, dass solche Konflikte gelöst werden, indem zur Erfüllung wichtiger Beschränkungen weniger wichtige zurückstehen müssen, sie also ggf. verletzt werden. Der Formalismus (dargestellt in OT-Tableaux) scheint mir elegant und gut vermittelbar, hat sich aber jenseits der Phonologie nicht wirklich durchsetzen können, obwohl er auf das Mapping von allen möglichen Arten von Input- und Outputrepräsentationen angewendet werden kann. Als Phonologe nutze ich OT viel.

 

Was sind die Themen, Fragestellungen, zu denen du grade arbeitest?

Ich beschäftige mich vor allem mit der Prosodie, also mit Sprachmelodie und -rhythmus, insbesondere in der Schriftsprachverarbeitung, beim Lesen. Fasziniert hat mich, dass es auch beim stillen Lesen nachweisbare prosodische Einflüsse auf das Verstehen von Sätzen und Texten gibt. Offenbar lesen wir nicht nur mit den Augen, wir lassen unsere innere Stimme den Text gleichsam vorlesen, und wir nutzen Phrasierung und Rhythmus der inneren Stimme, um das Gelesene zu verstehen. Das bedeutet auch, dass wir beim Lesen Sprache nicht nur rezipieren, wir produzieren, um zu verstehen. Wenn das so stimmt, hat das natürlich Konsequenzen für unsere Vorstellung von Sprachverarbeitung und erfordert eine stärkere Integration von Sprachverstehen und -produktion als in klassischen Sprachverarbeitungsmodellen vorgesehen. Die Idee des inneren Vorlesens macht auch deutlich, dass phonologische, oder allgemeiner: sprachlautliche Verarbeitung nicht nur ein Phänomen gesprochener Sprache ist.

 

Was hältst du für wichtige, aktuelle Entwicklungen in der Linguistik?

Für eine ernsthafte Antwort auf die Frage müsste ich einen besseren Überblick über die Disziplin haben. Die eine Linguistik gibt es ja gar nicht. Dort, wo ich einen Überblick habe, sehe ich, dass es in der Forschungsliteratur höhere Erwartungen hinsichtlich der Qualität empirischer Evidenz gibt. Letzteres halte ich grundsätzlich für eine gute und wichtige Entwicklung. Allerdings sollte sie nicht dazu führen, dass die notwendige Beschäftigung mit empirischen Methoden auf Kosten der Entwicklung und Vermittlung formaler Methoden und der Theoriebildung geht.

 

Wo siehst du die Linguistik in 20 Jahren?

Sie den Hinweis zur Frage zuvor. Grundsätzlich mache ich mir aber Sorgen um die Linguistik und andere Geisteswissenschaften – nicht, weil sie nichts zu sagen hätten, sondern weil die Menschheit mit dem Klimawandel ein weitaus größeres und wichtigeres Problem hat. Ich fürchte, die Beschäftigung mit Sprache wird noch stärker als jetzt schon Privileg und Luxus sein.

 

Was hältst du für aktuelle „Große Fragen“ in der Linguistik, die „unterforscht“ sind, aber geklärt/erforscht werden sollte (und die realistisch sind)?

Mir ist generell die Idee der „großen Frage“ in der Forschung fremd. Dort, wo an vermeintlich großen Fragen geforscht wird (z.B. an SFBs oder großen Forschungsinstituten) findet die eigentliche Forschungsarbeit doch sehr kleinteilig statt. Die Identifizierung einer „großen Frage“ sagt m.E. mehr über das rhetorische Geschick der Antragschreiber*innen, die ihre Kolleg*innen und geldgebende Insitutionen für das Vorhaben begeistern müssen, als über den Wert der Frage selbst. Oder es sagt etwas über die gesellschaftliche Relevanz einer Frage, was ja kein genuin linguistisches Kriterium ist. Trotzdem halte ich es für ungemein wichtig, dass in größeren Verbünden, also im engen kollegialen und interdisziplinären Kontakt geforscht wird – und das passiert natürlich v.a. da, wo es um vermeintlich große Fragen geht.

 

Wenn du zu einem Gebiet der Linguistik etwas arbeiten müsstest, zu dem bisher noch nichts gemacht hast, was wäre es?

Zu Somniloquie vielleicht? Ich habe angeblich früher im Schlaf gesprochen und meine Kinder tun das auch – unbewusste oder unterbewusste Sprachproduktion, das ist doch spannend. Ein möglicherweise verwandtes Gebiet: Malediktologie, die Wissenschaft vom Fluchen und Schimpfen, von verbaler Aggression. Ich glaube, dass es in dem Bereich durchaus spannende Phänomene (auch phonologische) zu untersuchen gibt.

 

Wenn du eine andere Wissenschaft wählen müsstest, in der du jetzt arbeitest. Was wäre es?

In dieser Zeit ist der Begriff der Systemrelevanz ja notorisch. Und manchmal beneide ich Wissenschaftler*innen, deren Arbeit der Gesellschaft unmittelbarer zugutekommt als meine. Um mich nicht zu weit von der Linguistik zu entfernen: Kommunikationswissenschaft wäre eine spannende Disziplin; was macht gute, erfolgreiche Kommunikation in der Krise aus?

 

Über welche Persönlichkeit der Linguistik würdest du gerne einen Spielfilm sehen?

Hm, es gibt ein paar alte emeritierte Herren, die als Antihelden in Tragikomödien taugen würden. Solche, die ihre zweifelsohne große linguistische Expertise oder ihre berufliche Stellung in den Dienst höchst fragwürdiger Ideen, Organe und Institutionen stellen und sich dadurch bei vielen ihrer aktiven Kolleg*innen völlig unmöglich machen. Ich glaube, ich sollte hier keine Namen nennen.

 

Zu welchem linguistischen Thema sollte es mehr Dokus geben?

Vielleicht zu gesellschaftlich relevanten Themen wie Sprache und Sprachwandel in der Migrationsgesellschaft, Sprachenvielfalt, Genderlinguistik, Sprache in den neuen Medien.

 

Welches linguistische Buch würdest du einer Nicht-Linguist*in schenken? 

David Adgers „Language unlimited“. Das ist sehr schön klar geschrieben.

 

Welches nicht-linguistische Buch würdest du einer Linguist*in schenken? 

„Herkunft“ von Saša Stanišić – das ist gerade sprachlich wunderschön und unglaublich kreativ.

 

Vorherige Ausgaben von LiF