Kinder lernen die Sprache ihrer Eltern - oder auch die Sprachen ihrer Eltern. Dieser Vorgang wird von vielen Eltern als pädagogische Aufgabe verstanden: Die Eltern, so eine verbreitete Annahme, müssten ihren Kindern das Sprechen gezielt beibringen. Die Aufgabe der Kinder sei demnach, die Vorgaben der Eltern nachzuahmen. Verblüffend ist: Diese Vorstellung vom Spracherwerb des Kindes ist falsch!
Die Linguistik beobachtet seit Jahrzehnten den Vorgang des Spracherwerbs von Kindern und macht dabei immer wieder überraschende Entdeckungen:
- Würde der Spracherwerb auf Nachahmung beruhen, so würden Kinder „nachsprechen", was ihre Eltern ihnen „vorsprechen". Kinder erzeugen aber Formen, die sie von ihren Eltern nie gehört haben. Erkennt ein Kind, dass die Vergangenheitsform im Deutschen durch hinzufügen von „t“ gebildet wird, so verwendet das Kind recht schnell „ich lache“ und „ich lachte“ und ebenso auch „ich mache“ und „ich machte“. Darüber hinaus aber bilden Kinder jetzt auch Formen, die sie niemals von ihren Eltern gehört haben: Formen wie „gestern gehte ich“ folgen nur der Regel des Kindes - die Eltern verwenden diese Form aber nicht! Kinder ahmen also nicht stumpf ihre Eltern nach - sie konstruieren ihr eigenes Regelwerk!
- Wenn Eltern versuchen, die Fehler der Kinder zu korrigieren, wird dies (nicht nur) von jüngeren Kindern oft ignoriert. Zudem haben aufwändige Untersuchungen gezeigt: Eltern korrigieren die Sprache ihrer Kinder tatsächlich eher selten und oft auch wenig konsistent. Kinder lernen aber auch ohne ständige Korrekturen sehr wohl ihre Muttersprache - ein elterlicher „Sprachunterricht“ mit expliziten Anleitungen und Korrekturen wird also offenbar gar nicht gebraucht.
- Wenn Eltern mit ihren Kindern eine Sprache sprechen, die nicht die Muttersprache der Eltern ist, so stellt man fest, dass die Kinder in diesem Szenario die Fähigkeiten ihrer Eltern oft übertreffen - mit anderen Worten: Die vermeintliche „Nachahmung“ ist besser als das „Original“! Kurz gesagt also: Die Sprache der Kinder ist keine Kopie der Sprache der Eltern.
Eltern werden derzeit mit Angeboten umstellt, die angeblich Kindern helfen, sprechen zu lernen. Einen belegbaren Nutzen für kommerzielle Produkte dieser Art gibt es aber nicht. Eltern sollten sich daher nicht verunsichern lassen: Ihr Kind braucht für seinen Spracherwerb weder die nahrungsergänzende Mineralienbrause noch das Sprachlernspiel für die tragbare Spielekonsole! Auch (oft politisch motivierte) Vorstellungen, wie die Spracherziehung abzulaufen habe, sind bei genauerem Hinsehen oft nicht stichhaltig. Die gute Nachricht ist vielmehr: Was Kinder brauchen, ist Ihre Zuwendung und Ansprache. Darüber hinaus ist ihr Spracherwerb ein robuster Prozess, der von Kindern mit viel Kreativität und Zielstrebigkeit gemeistert wird.
Interessieren Sie sich dafür, wie Kinder ihre Muttersprache erlernen - und zwar wissenschaftlich untersucht und ohne kommerzielle oder politische Hintergedanken?